6. Wer wohnte in der Seebener Str. 5? Adressbuchrapport
Die Seebener Straße hieß bis zur Eingemeindung Giebichensteins zu Halle Trothaer Straße. Die heutige Nummer fünf war bis in die Zwanziger Jahre die Nummer drei. Wie alt das Haus ist, war aus den Bauakten leider nicht zu entnehmen. Doch es ist im halleschen Denkmalsverzeichnis folgendermaßen beschrieben: Einfacher zweigeschossiger Putzbau mit Krüppelwalmdach, gut und nahezu unverändert erhaltenes Relikt der ältesten dörflichen Bebauung Giebichensteins, erbaut 18./frühes 19. Jahrhundert.
Die Bauakte (Stadtarchiv) läßt auf eine fröhliche Bautätigkeit schließen. 1867 wurde ein neuer Schornstein erbaut. Der Maurer K. Hanemann war Besitzer und Bauherr. Im Frühjahr 1884 beantragte seine Frau Emelie Hanemann, inzwischen Witwe, den Anbau eines Wohnhauses, im Sommer bereits den Anbau des Hintergebäudes. Im Juni 1885 wurde für den Bau von Kohlenställen ein Stück Böschung abgetragen.
Außer der Witwe wohnten der Oebster (Obsthändler) Schmuhl, zwei Handarbeiter Jansen und Rehfeld und der Berginspektor Uhde in der Trothaer Straße 3. Der nächste Besitzer war von 1890 bis 1920 Paul Harnisch.
Entweder sind die Eintragungen im Adressbuch ungenau, oder der Mann hatte tatsächlich mehrere Berufe: Kaufmann, Mechaniker, Schlosser und Fleischbeschauer. Eine Fleischerei befand sich im Nebenhaus, in der 4 (Fleischerei Sturm). Mehrere Maurer und Witwen bewohnten das Haus um die Jahrhundertwende. In den Neunzigern zog der Arbeiter Fritz Hesse ein, der fast vierzig Jahre im Haus blieb. In dieser Zeit qualifizierte er sich vom Rangierer zum Schirrmeister und schließlich zum Bahnpolizeibeamten weiter.
1905 verzeichnet das Adressbuch in seiner trockenen Art unter den sechs Wohnparteien beispielsweise: Fölbel, F., Straßenbahnschaffner und Nerche, W., Fräulein. Das Fräulein Wilhelmine Nerche wird später aber auch als Rentiere und Privata geführt.
1920 gibt es im Haus neun Wohnparteien. Eine davon ist die Witwe Hedwig Hammer mit ihrer Tochter Hedwig Hammer, die als Plätterin arbeitete. Die Plätterin zog in den Dreißigern aus, ihre Mutter blieb bis nach dem Krieg im Haus.
Ab 1930 etwa gehörte das Haus dem Universitätsprofessor H. Bauer, der selbst in der Kronprinzenstraße wohnte und im Adressbuch seine Postscheckkontonummer angegeben hatte. Er führte eine ausführliche Baukorrespondenz mit den ent- sprechenden Ämtern über Umbauten, vor allem von Abortanlagen. 1931 wird Bauer von der städtischen Baupolizeiverwaltung wiederholt aufgefordert, die Abortanlage in Ihrem Grundstück Seebenerstraße 5 zu beseitigen und die unmittelbare Abschwemmung der menschlichen Abgänge in das Städtische Kanalnetz herbei- zuführen.
Die Toilettenlage blieb offensichtlich unbefriedigend, denn zwei Jahre später, 1933, bittet Bauer um eine Genehmigung zum Abortumbau, mit dem Gruß Heil Hitler.
Einige Jahre später bittet er um Weiterbenutzung einer Aschengrube, weil ihm der Anschluß an die städtische Müllabfuhr zu teuer war.
Im Zweiten Weltkrieg steigt die Zahl der Witwen im Haus Seebener Straße 5 auf drei. Die Arbeiter Pfeiffer und Lerchner wohnen dort und der Werktischlermeister Schuchardt. Die Pohle, Frieda , führt im Adressbuch die Berufsbezeichnung Frau.
Nach dem Krieg ist aus ihr die Bohle, Frieda, geworden, Hausverwalterin. Als erster Künstler bewohnt das künftige Objekt 5 ab 1950 der Sänger Wolfgang Dressel.In dem kleinen dörflichen Haus Seebener Straße 5, seinem vorstädtischen Anbau und seinem kleinen Hinterhaus haben in den 90 Jahren, in denen das hallesche Adressbuch geführt wurde, einfache Leute gelebt: Maurer, Witwen, Arbeiter. Es gab kein Telefon, und mit den Toiletten hat es offensichtlich jahrelang Hudeleien gegeben. Daß sie dem Giebichensteiner Dichterparadies gegenüber wohnten und Kaiser und Könige an ihrem Haus vorrüberritten, hat ihnen vielleicht nicht viel bedeutet. Aber daß sie die schöne Umgebung wahrgenommen und den Nachtigallen gelauscht haben, dürfen wir vermuten.
Quellen:
- Kirchenbücher der Bartholomäusgemeinde Bauakte
- Stadtarchiv Häuserarchiv - Stadtarchiv Adressbücher - 1880 bis 1950
- Stadtarchiv Friedrich Linke
- Chronik von Giebichenstein Erich Neuss
- Das Giebichensteiner Dichterparadies Siegmund Schultze-Galléra
- Wanderungen im Saalkreis Derselbe
- Alte Giebichensteiner Vergnügungsgärten Heimatkalender Halle 1923
- Giebichensteiner Heimatkalender 1939 bis 1942
- Denkmalsverzeichnis von Sachsen-Anhalt, Halle